Bis ich 21 war by Ela Angerer

Bis ich 21 war by Ela Angerer

Autor:Ela Angerer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2013-12-31T16:00:00+00:00


Den Stil der Handschrift hatte ich so gewählt, wie ich mir vorstellte, dass eine Frau wie meine Großmutter schreiben würde – in den Augen der Direktorin. Ich hatte Übung, schließlich hatte ich schon in der Schule bei uns zu Hause für etliche Mitschüler die Unterschriften ihrer Eltern gefälscht. Bei einem ganzen Brief wie diesem ging es nun nicht darum, einen Schriftzug zu kopieren, hier fehlten ja zum Glück die Vergleichsmöglichkeiten. Es ging darum, ein authentisches Gesamtbild abzuliefern. Es war nicht schwer, man musste sich nur möglichst gut in das Alter einer Person, die Epoche ihrer Blütezeit und ihre Tätigkeit hineindenken. Natürlich schrieb ein vierzigjähriger Arzt anders als eine fünfundsechzigjährige Hausfrau, bei der wiederum alles von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund abhing.

Ich war mit dem Ergebnis zufrieden. Vorsichtig faltete ich den Bogen Papier und legte ihn in das mit hellblauem Seidenpapier gefütterte Kuvert, das ich im Ort gekauft hatte. Ich musste daran denken, wie ich früher im Haus meiner Großeltern immer Büro gespielt hatte. Stundenlang hatte ich erfundene Krankheiten und Medikamentenverordnungen auf kleine weiße Papierblöcke gekritzelt und mit einem Datumsstempel aus einem Post-Spiel für Kinder versehen. Bis eines Tages mein Großvater aufgeregt in die Küche kam, mir einen dieser Zettel vor die Nase hielt und mich dabei anschrie: »Welcher Arzt hat dir dieses Rezept ausgestellt?!«

Nun kam der schwierigste Teil. Für die Sonderregelungen von Wochenenden musste man bei der Direktorin vorsprechen, was eine Bitte um Vorsprache bei der jeweiligen Erzieherin vorausschickte. Brühlmayer informierte die Direktion im ersten Stock des Schlosses, dass die Neue um einen Termin ansuchte. Zwei Stunden später wurde ich hinaufgerufen.

»Warte, bis du hereingeholt wirst«, sagte Brühlmayer.

Oben musste ich eine weitere Dreiviertelstunde warten, dann endlich ging die Tür auf, und die Direktorin kam auf mich zu. Mit eisernem Druck schüttelte sie meine Hand und holte mich in ihr Büro hinein.

»Wie hast du dich eingelebt?«, schrie sie, während sie sich wieder hinter ihren Schreibtisch setzte. Hier war Soldatendisziplin gefragt.

»Danke, gut«, antwortete ich so zackig wie möglich und sah ihr dabei fest in die Augen. »Dürfte ich Ihnen dieses Schreiben meiner Großmutter übergeben«, sagte ich und bewegte mich mit ausgestrecktem Arm, in dessen Hand das Kuvert lag, zwei Schritte auf ihren Schreibtisch zu. Mein Herz klopfte bis zum Hals, während ich zusah, wie sie den Lügenbrief öffnete und zu lesen begann.

Das ganze Zimmer war mit Holz vertäfelt und mit Perserteppichen ausgelegt. Die Direktorin trug ein flaschengrünes Kostüm, sah darin aber trotzdem aus wie das, was Erwachsene einen gestandenen Mann nannten.

Endlich sah sie auf und sagte in deutlich milderem Ton:

»Gut, dann lass deine Großmutter schön grüßen.«

Feierlich legte sie den Brief in eine Mappe, auf der mein Name stand. Ich war entlassen.

Flächen von Indigo und Preußischgrün wechselten einander hinter der Scheibe des Waggon-Fensters ab. Ein Ort wie der andere, dazwischen nichts als Wälder. Langsam verschwand die letzte Herbstsonne hinter den Bergen, ich kannte ihre Namen nicht.

In Attnang-Puchheim musste ich in einen schnelleren Zug umsteigen. Auf dem Weg von einem Gleis zum anderen versuchte ich von einer Telefonzelle aus Freunde zu erreichen, die seit kurzem in Wien studierten und dort zusammen eine WG bewohnten.



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